Geschlechtsspezifische Gesundheitslücke
Frauen leben länger als Männer und sind trotzdem häufiger krank.
Was wie ein Widerspruch klingt, verweist auf ein tief verankertes strukturelles Problem: die geschlechtsspezifische Gesundheitslücke, international als Gender Health Gap bezeichnet.
Sie beschreibt die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Gesundheit, Forschung, Diagnostik, Therapie und Versorgung und sie zeigt, wie stark die Medizin bis heute vom männlichen Maßstab geprägt ist.
Ein historischer blinder Fleck
Über viele Jahrzehnte wurde der männliche Körper als medizinischer Standard betrachtet. Medikamente, Leitlinien und Diagnosen wurden auf der Basis männlicher Probanden entwickelt, getestet und bewertet.
Frauen galten wegen hormoneller Zyklen, potenzieller Schwangerschaften oder unvorhersehbarer Wechselwirkungen als „komplizierter“. Das Ergebnis: Frauen wurden aus klinischen Studien ausgeschlossen oder nur unzureichend berücksichtigt.
Herzinfarkt? Bei Frauen sieht er anders aus und wird zu spät erkannt
Diese Verzerrung hat Folgen, die bis heute wirken. Symptome, die bei Männern als typisch gelten, werden bei Frauen häufig übersehen oder fehlinterpretiert. Kaum ein Beispiel zeigt die Problematik so deutlich wie der Herzinfarkt.
Frauen werden in Deutschland bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch immer seltener korrekt oder frühzeitig diagnostiziert. Sie kommen oft später ins Krankenhaus, erhalten nicht immer die empfohlene Behandlung und haben dadurch ein höheres Risiko, an den Folgen zu sterben.
Warum? Weil ihre Symptome „nicht typisch“ sind. Frauen klagen häufiger über Übelkeit, Rückenschmerzen, Atemnot oder Müdigkeit, statt über den klassischen Brustschmerz. Doch genau dieser gilt als diagnostischer Schlüssel. Das bedeutet: Frauen passen nicht ins Schema.
Mehr Lebenszeit – weniger gesunde Jahre
In Deutschland liegt die Lebenserwartung von Frauen bei rund 83 Jahren, Männer erreichen durchschnittlich 78 Jahre. Doch diese zusätzliche Lebenszeit bedeutet nicht automatisch mehr Gesundheit.
Insgesamt verbringen Frauen mehr Jahre ihres Lebens mit Krankheit, Schmerzen oder Einschränkungen. Chronische Erkrankungen, Autoimmunstörungen und psychische Belastungen treten bei ihnen häufiger auf, während Diagnosen und Therapien oft zu spät erfolgen.
Das Statistische Bundesamt bestätigt: Frauen leiden häufiger an chronischen Schmerzen, Depressionen und Erschöpfungszuständen und das, obwohl sie medizinische Leistungen insgesamt häufiger in Anspruch nehmen.
Gender Health Gap – systematische Verzerrungen auf mehreren Ebenen
1. Forschungslücke
Die medizinische Forschung ist historisch auf männliche Probanden ausgerichtet. Frauen sind in Studien unterrepräsentiert oder werden nicht gesondert ausgewertet. Laut einem Bericht des Deutschen Bundestages (2023) fehlen belastbare Daten, die geschlechtsspezifische Unterschiede sichtbar machen könnten. Das führt dazu, dass Medikamente, Diagnostik und Therapien an einem männlichen Körper „erprobt“ werden und bei Frauen anders wirken können.Diese Forschungslücke zieht sich wie ein roter Faden durch alle medizinischen Disziplinen – von der Onkologie über die Kardiologie bis zur Psychiatrie.
2. Normierung am männlichen Leitbild
Die klinische Praxis orientiert sich vielfach an Referenzwerten und Symptomen, die am „Standardpatient Mann“ entwickelt wurden. Die Folge: Frauen werden falsch eingeschätzt, ihre Beschwerden psychologisiert oder bagatellisiert, immer noch häufig mit dem Etikett „Stress“ oder „Überlastung“.
3. Gesellschaftliche Belastungen
Frauen tragen nach wie vor einen Großteil der unbezahlten Sorgearbeit: Kinderbetreuung, Pflege, Haushalt. Diese Mehrfachbelastung wirkt sich direkt auf die psychische und körperliche Gesundheit aus. Eine Studie in Demographic Research (2023) zeigt, dass Mütter während der COVID-19-Pandemie deutlich stärkere psychische Einbußen erlebten, insbesondere bei hoher Care-Last.
4. Fehlende geschlechtersensible Versorgung
Gesundheitsangebote sind oft nicht auf unterschiedliche Bedürfnisse ausgerichtet. Das betrifft Diagnostik, Medikamentendosierung, Vorsorge und Therapie gleichermaßen. Selbst die Kommunikation zwischen Ärztinnen, Ärzten und Patientinnen wird häufig durch Geschlechterstereotype beeinflusst.
Wenn Forschungslücken Versorgungslücken erzeugen
Fehlende Daten führen zu fehlendem Wissen und fehlendes Wissen führt zu schlechterer Versorgung.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat diesen Zusammenhang erkannt und 2024 eine eigene Richtlinie zur geschlechtssensiblen Medizin gestartet. Ziel ist es, den Gender Health Gap wissenschaftlich aufzuarbeiten und die Geschlechterdaten systematisch zu erfassen.
Denn: Solange Forschung und Versorgung auf dem „Durchschnittsmann“ basieren, bleiben Frauen systematisch benachteiligt – mit realen Folgen für Gesundheit, Lebensqualität und Lebenserwartung.
Die ökonomische Dimension der Ungleichheit
Gesundheit ist nicht nur ein individuelles Gut, sondern eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Ressource. Eine Analyse von McKinsey & Company (2023) schätzt, dass das Schließen der Gesundheitslücke zwischen Männern und Frauen weltweit über eine Billion US-Dollar an zusätzlichem Wirtschaftswachstum ermöglichen könnte.
Investitionen in geschlechtersensible Forschung und Versorgung lohnen sich also doppelt: Sie verbessern nicht nur individuelle Lebensqualität, sondern stärken ganze Gesellschaften.
Fortschritte – aber noch kein Gleichgewicht
Es bewegt sich etwas:
- Universitäten integrieren zunehmend „Gender Medicine“ in ihre Lehrpläne.
- Forschungsförderungen und politische Programme rücken Geschlechtergerechtigkeit in der Medizin stärker in den Fokus.
- Medien und Fachgesellschaften thematisieren den Gender Health Gap regelmäßig, etwa die Bundesstiftung Gleichstellung (2024).
Dennoch ist der Weg lang. Noch immer fehlt es an Wissen, Bewusstsein und struktureller Verankerung. Viele Menschen kennen den Begriff „Gender Health Gap“ nicht und erkennen erst im persönlichen Erleben, was er bedeutet.
Auch Männer profitieren von geschlechtersensibler Medizin
Der Gender Health Gap wird oft als Thema der Frauengesundheit verstanden, doch tatsächlich betrifft er aber alle Geschlechter.
Auch Männer leiden unter Geschlechterstereotypen, die ihren Zugang zu Gesundheit beeinflussen. Sie gehen seltener zur Vorsorge, sprechen weniger über psychische Belastungen und erleben häufig gesellschaftlichen Druck, Stärke zu zeigen. Diese Haltung führt dazu, dass Krankheiten bei Männern oft später erkannt und früher tödlich verlaufen, etwa bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen oder Suchterkrankungen.
Warum das Thema auch Unternehmen betrifft
Die Frage nach Gesundheit ist immer auch eine Frage der Strukturen, in denen Menschen arbeiten. Ob Belastung entsteht oder ausgeglichen werden kann, hängt eng damit zusammen, wie Organisationen Geschlecht, Verantwortung und Fürsorge denken.
Unternehmen, die verstehen, wie Gesundheit, Geschlecht und Arbeitskultur miteinander verknüpft sind, schaffen nicht nur gerechtere, sondern auch leistungsfähigere Strukturen.
Frauen und Männer erleben Belastung, Stress und Gesundheit unterschiedlich, weil Erwartungen, Rollen und Kommunikationsmuster verschieden wirken. Während Frauen häufiger in die Doppelrolle aus Beruf und Sorgearbeit geraten, zeigen Männer oft eine geringere Bereitschaft, Überlastung zuzugeben oder Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Beides führt zu verdeckter Erschöpfung, Produktivitätsverlust und steigenden Fehlzeiten.
Laut Statistischem Bundesamt (Destatis, 2025) sind Beschäftigte in Deutschland im Durchschnitt 14,8 Tage pro Jahr krankgemeldet. Tendenz steigend. Geschlechtersensible Gesundheitsförderung kann dazu beitragen, diese Belastung besser zu verstehen und gezielt zu reduzieren.
Auf organisationaler Ebene bedeutet das:
- Führung und Gesundheitsmanagement sollten Stress, Kommunikation und Arbeitsgestaltung differenziert betrachten, nicht nur nach Funktion, sondern auch nach Geschlecht und Lebensrealität.
- BGM-Strategien (Betriebliches Gesundheitsmanagement) gewinnen an Wirksamkeit, wenn sie berücksichtigen, wie Rollenbilder, Care-Verantwortung oder Arbeitszeitmodelle die Gesundheit beeinflussen.
- Psychische Gesundheit wird zum Schlüsselthema, insbesondere, wenn Unternehmen Räume schaffen, in denen auch Männer über Belastung sprechen können und Frauen sich jenseits traditioneller Rollen entfalten können.
Eine geschlechtersensible Unternehmenskultur ist damit kein Zusatz, sondern ein Wettbewerbsfaktor: Sie stärkt Resilienz, senkt Fehlzeiten und erhöht Bindung und Motivation.
Gesundheitsgerechtigkeit ist also nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein strategisches Führungsthema. Organisationen, die das erkennen, gestalten Arbeitswelten, in denen Leistung und Gesundheit sich gegenseitig stärken.
Fazit
Der Gender Health Gap ist kein Randthema, sondern eine Frage der Gerechtigkeit: wissenschaftlich, gesellschaftlich, politisch und ökonomisch.
Eine moderne Medizin darf Unterschiede nicht ignorieren, sondern betonen. Sie muss anerkennen, dass Gleichbehandlung nicht Gleichmachung bedeutet, sondern gerechte Berücksichtigung von Vielfalt.
Quellen
- Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). (2024).
Bekanntmachung: Richtlinie zur Förderung von Projekten zum Thema „Interaktive Technologien für eine geschlechtsspezifische Gesundheit“, Bundesanzeiger vom 12.07.2024.
https://www.bmbf.de/SharedDocs/Bekanntmachungen/DE/2024/07/2024-07-12-Bekanntmachung-Gender-Health-Gap.html - Bundesstiftung Gleichstellung. (2024). Gender Health Gap.
https://www.bundesstiftung-gleichstellung.de/gender-health-gap - Hiekel, N., & Kühn, M. (2024). Lessons from the pandemic: Gender inequality in childcare and the emergence of a gender mental health gap among parents in Germany. Demographic Research, 51, 49–80.
https://www.demographic-research.org/articles/volume/51/3 - Eurostat. (2024). Gesunde Lebensjahre nach Geschlecht (ab 2004) [HLTH_HLYE]. Statistisches Amt der Europäischen Union.
https://doi.org/10.2908/HLTH_HLYE - McKinsey & Company. (2023). Closing the women’s health gap: A $1 trillion opportunity to improve lives and economies.
https://www.mckinsey.com/mhi/our-insights/closing-the-womens-health-gap-a-1-trillion-dollar-opportunity-to-improve-lives-and-economies - Merkel, M. (2024). Gender Health Gap: Unterbehandlung kardiovaskulärer Erkrankungen bei Frauen. Gynäkologie, 57(5), 454–459.
https://doi.org/10.1007/s00129-024-05243-9 - Robert Koch-Institut (RKI) & Statistisches Bundesamt (Destatis). (2023).
Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland – wichtige Fakten auf einen Blick. Berlin.
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/user_upload/RKI_Gesundheitliche_Lage_der_Frauen_in_Deutschland_Screen.pdf - Statistisches Bundesamt (Destatis). (2025).
Krankenstand: Durchschnittliche Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage je Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer. Wiesbaden.
https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-2/krankenstand.html - Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages. (2023).
Geschlechtsspezifische Medizin (Aktueller Begriff Nr. 09/23, Verfasserin: RDn Tanja Meinert). Berlin.
https://www.bundestag.de/resource/blob/949598/e2c52ac7dd241d1b841d5449a2e7da1b/Geschlechtsspezifische-Medizin-data.pdf
Verwendete Fotos: Canva