Gesunde Selbstführung statt Dauerstress: Ein neuer Blick auf Leadership

Führung als Spiegel innerer und organisationaler Dynamiken

In den letzten Jahren hat sich mein Blick auf Führung verändert. Nicht plötzlich, sondern schrittweise, durch viele Gespräche, durch persönliche Erfahrungen, durch das, was sich zwischen den Zeilen gezeigt hat.

Wenn das Coaching tiefer geht als erwartet

Was in einem Cochingprozess anfangs nach klaren Führungsthemen klingt – Konflikte, Teamdynamik, Resilienz – geht oft viel tiefer.  Für viele Klient:innen steht dann überraschenderweise die eigene Work-Life-Balance und die eigene, gesunde Selbstführung im Mittelpunkt. In solchen Fällen verschiebt sich der Fokus. Nicht, weil das Ziel falsch war, sondern, weil ohne eine ehrliche Selbstreflexion die Grundlage fehlt, um das ursprüngliche Anliegen nachhaltig zu erreichen.

Denn Selbstführung ist nicht nur ein kognitives Konzept. Sie ist eine verkörperte Fähigkeit, eng verknüpft mit Wahrnehmung, Regulation und innerer Kohärenz. Erst, wenn Menschen beginnen, sich selbst wieder wahrzunehmen, jenseits von Funktion und Leistungsdruck, wird Veränderung möglich. Und genau dort beginnt oft das, was Coaching im besten Sinne sein kann:

Einen Raum geben, in dem Klarheit über die eigenen Ziele, Motive, Bedürfnisse und Gefühle entsteht.

Funktionieren – aber zu welchem Preis?

Ich begleite Menschen, die gestalten, entscheiden und viel geben, vor allem in stressdominierten Arbeitswelten. Das sind Führungskräfte, Ärzte und Ärztinnen, Selbstständige, Eltern oder andere Verantwortungstragende. In all diesen Rollen habe ich verschiedene Aspekte der Führung erlebt: strategisch, menschlich, manchmal auch widersprüchlich. Dabei habe ich Folgendes festgestellt: Es sind nicht die Methoden, die Menschen in ihrer Rolle stabil machen. Es ist die Fähigkeit, sich selbst zu gesund führen: unter Druck, im Wandel, inmitten von Komplexität. 

Ich habe mich in den letzten Jahren intensiv mit den Themen Leadership, Resilienz, Selbstführung, Projekt- und Konfliktmanagement sowie Persönlichkeitsentwicklung beschäftigt. Doch was mir in all den Beratungen, Gesprächen, Coachings sowie persönlichen und organisationalen Prozessen zunehmend begegnet ist, unabhängig von Branche oder Hierarchie sind:

  • Menschen, die funktionieren, aber kaum noch schlafen.
  • Menschen, deren Körper ihnen Signale sendet, die sie nicht mehr deuten können.
  • Menschen, deren hormonelles Gleichgewicht still leidet und deren Alltag trotzdem weiterläuft.

Das ist kein individuelles Problem.

Es ist ein Ausdruck einer Arbeitskultur, die Leistung über alles stellt und Gesundheit als Privatsache betrachtet.

Was wirklich fehlt, sind Räume für Regeneration

Was viele Menschen erschöpft, ist nicht unbedingt das Tun, sondern das dauerhafte Weglassen von dem, was nährt. Viele sind erschöpft, weil ihr Alltag keine Räume für Entspannung mehr kennt. Und durch den Dauerstress der Zugang zum eigenen Körper und zu eigenen Gesundheit fehlt.

Gesunde Arbeit ist Führungsleistung und Systemaufgabe zugleich

Gesunde Selbstführung bedeutet, Verantwortung für die eigene Wirksamkeit zu übernehmen. Sie ist die Voraussetzung dafür, andere gesund zu führen: mit Klarheit, Präsenz und realistischen Erwartungen.

Viele Organisationen investieren noch immer in Gesundheitsmaßnahmen, ohne die eigentlichen Ursachen anzusehen. Da gibt es Rückenschulen, Yogaangebote oder Achtsamkeitswochen. Gut gemeinte Aktionen, die jedoch selten strukturell verankert sind. Gesundheit bleibt in solchen Fällen ein Zusatzangebot im Kalender, während die eigentlichen Belastungstreiber unverändert bestehen: unklare Rollen, ständige Unterbrechungen, fehlende Prioritäten, zu wenig Führung.

Unternehmen, die Gesundheit ernst nehmen, müssen genau hier ansetzen und zwar bei den Bedingungen, nicht bei den Symptomen.

Neue Arbeitskultur statt Einzelmaßnahmen

Organisationen, die das verstehen, investieren nicht nur in Einzelmaßnahmen, sondern in eine neue Arbeitskultur:

  • in Führung, die Belastung erkennt, bevor sie krank macht,
  • in Kommunikation, die Orientierung gibt,
  • und in Strukturen, die Stabilität sichern.

Gesunde Führung ist ein Teil unternehmerischer Verantwortung und – mehr denn je – ein Wettbewerbsfaktor.

Gesunde Organisationen brauchen Strukturen, die Selbstführung ermöglichen

Ihre Wirkung entfaltet Selbstführung erst in Strukturen, die sie nachhaltig unterstützen. Ein Unternehmen, das Gesundheit ernst nimmt, schafft nicht nur Angebote, sondern Gestaltungsspielräume. Führung und Kultur bestimmen, ob Mitarbeitende überhaupt die Möglichkeit haben, sich selbst zu führen: ob Pausen respektiert werden, ob Prioritäten realistisch gesetzt sind, ob Kommunikation Orientierung statt Dauerreizung bietet.

Gesundheit im Unternehmen braucht Systembewusstsein: das Erkennen, dass Belastung kein individuelles Versagen, sondern ein organisationales Signal ist. Dort, wo Führung und Management frühzeitig Muster erkennen, z.B. Überlastung, Dauererreichbarkeit, emotionale Erschöpfung, kann präventiv gehandelt werden. Das ist kein „Soft Skill“, sondern ein Ausdruck professioneller Steuerung.

Die Verbindung aus Führung, Struktur, Kommunikation und Gesundheit wird zunehmend zum strategischen Erfolgsfaktor. Studien zeigen, dass psychologische Sicherheit, klare Verantwortlichkeiten und ein transparenter Umgang mit Belastungen signifikant zur Resilienz von Teams beitragen. Wo diese Strukturen fehlen, geraten selbst hochkompetente Führungskräfte in eine reaktive Haltung: Sie managen Symptome, statt gesund zu steuern.

Für die Praxis heißt das: Gesunde Führung beginnt mit der Art, wie Organisationen Entscheidungen treffen und Arbeitsbedingungen gestalten. 

Fazit

Gesunde Arbeit bedeutet intelligentere Steuerung der verfügbaren Ressourcen. 

Es braucht Führung, die erkennt, wann Systeme nicht mehr funktionieren und Management, das Ressourcen nicht nur plant, sondern schützt. Nicht nur aus Fürsorge, sondern als betriebswirtschaftliche Notwendigkeit.

  • Laloux, F. (2024). Reinventing organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit (2. Aufl.). Vahlen.
  • Mallison, M., & Harbs, D. (2021). Burnout ist out: Wie Sie das Ausbrennen verhindern. Springer Gabler.
  • Mattes, R. M. (2022). Gesunde Führung in der VUCA-Welt: Leadership in Transformation (2. Aufl.). Haufe.
  • Niekerken, A. (2023). Das Natural-Leadership-Prinzip: Mit bewusster Selbstführung zur Führungspersönlichkeit. Springer Gabler.
  • Schubert-Panecka, K. (2018). Business Medi(t)ation 1: Gesunde Selbstführung und Konfliktkompetenz in Unternehmen. Springer Gabler.

Verwendete Fotos: Canva

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